Rupert Seidl über Ellen Meder
Die Tiefe ist außen.
(Albert Paris von Gütersloh)

Viele Kunst unserer Zeit zitiert, variiert, kommentiert und diskutiert ausschließlich Kunst. Ein reines Destillat inneren Erlebens wird gleichsam in einem geschlossenen Labor des Kunstbezugs gesucht. Emanzipiert von der Welt der Tatsachen manifestiert sich diese Kunst als unabhängig von unmittelbarer, körperlicher, gelebter Erfahrung.
Ellen Meders Arbeit geht den umgekehrten Weg. Sie sucht, nach dem Satz von Albert Paris von Gütersloh, die Tiefe im Außen. Ihr Blick richtet sich auf das, was niemals wird Kunst sein können. Er ist illusionslos. Er bildet sich nichts ein. Er trifft auf Beton. Auf die Haut. Neben das Glas. An der Tür vorbei. Er richtet sich auf die mikroskopisch feinen Zwischenräume im Wirklichen, die nicht mehr durch Worte bezeichnet werden können. Sein Radar ist das unmittelbar Erlebte, die Not, der Hunger, die Begierde, die Sehnsucht und die Angst eines voraussetzungslos körperlichen Menschenwesens.
Ellen Meder arbeitet wie eine Höhlenforscherin, die sich tief in diese dunklen Risse der Wirklichkeit abseilt. Wo immer sie sich auftun, da steigt sie ab. Stets sucht sie die Voraussetzungslosigkeit gegenüber dem Leben im Hier und Jetzt. Sie sieht genau, dass die Grenzen der Körper und die Grenzen der Räume nicht fest sind. Materie wird Schwingung, Gestalt Provisorium, die Ewigkeit zu einem haarfeinen Jetzt. Sie sucht Erkenntnis. Versucht zu verstehen. Ihre Werke sind Assemblagen, Funde, Spuren und Indizien.
Den gleichen Blick richtet sie auf die feinen Spalten zwischen den Worten. Die Tiefe ist außen – hinter jedem Wort dieses Satzes steht für Ellen Meder eine Pause; nur einen Sekundenbruchteil lang, aber so tief wie ein Abgrund. Alles steht jede Sekunde zur Disposition. Zwischen den Momenten klaffen tiefe Wunden. Zwischen den Wörtern öffnen sich für sie Ängste, Wünsche und die tiefe wortlose Beunruhigung über den Fakt, tatsächlich am Leben zu sein.
Ihr Bezugsrahmen spannt sich weit, bleibt so fein wie ein Spinnennetz. Eindrücke und Anregungen aus dem Werk von Francis Bacon finden sich darin, ebenso wie Bezüge auf den Filmemacher Ulrich Seidl, die Photographen Helmut Newton und André Kertész, die Filmemacher Maya Deren und Paul McCarthy sowie den Künstler Daniel Spoerri. Die Lehre von den vier Temperamenten ist eine Basis ihres Denkens, der Begriff der Hysterie bei Gilles Deleuze eine andere.
Ihr Bezug auf die Wirklichkeit ist praktisch und klar, konkret angesiedelt in Stadt und Land. Küche, Stall, Bett und Kirche, und die weite, die konkrete Wiese, eine mit Disteln und stechenden Insekten lassen ihn verweilen – für einen kurzen Moment nur, denn verweilen darf er so wenig oder viel wie wir alle – in einem körperlichen Leben, stetem Fluss und steter Zerstörung anheimgegeben.



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